Mitleid und Respekt

Ende Februar war ein Zeitzeuge des Nationalsozialismus bei uns am NIGE zu Besuch: Herr Carl Osterwald, 95 Jahre, Pastor verschiedener ostfriesischer Gemeinden und – man höre und staune – auch 9 Jahre lang in Kapstadt. Nach seiner Pensionierung wurde er u.a. Mitbegründer der KZ Gedenkstätte Engerhafe.
Wie ist es damals gewesen? Wieso konnte es im vermeintlich zivilisierten Deutschland eine solche Entwicklung hin zu Missachtung, Ausgrenzung und Vernichtung der Juden geben, fragten die Schülerinnen und Schüler einer 10. Klasse, die sich gerade mit dem Nationalsozialismus, dem Zweiten Weltkrieg und der Judenverfolgung und -vernichtung im Unterricht beschäftigen. Warum hat niemand dagegen etwas getan? Wieso haben auch die jungen Leute in unserem Alter begeistert mitgemacht?

Auf solche Fragen im Geschichtsunterricht Antworten zu geben, ist sehr schwer. Es bleibt bei wenig differenzierten und plakativen Begründungen, wie sie auch das Lehrbuch bietet.

Um wieviel beeindruckender ist da die tatsächliche Begegnung mit Geschichte: nämlich das Aufsuchen von historischen Orten, wie z.B. das ehemalige KZ Engerhafe, das als ein Außenlager des KZ Neuengamme für 2 Monate existierte und deren Insassen (vorwiegend Polen und
Niederländer) am Bau des Nordatlantikwalls und an dem Panzergraben um Aurich mit Schaufel und Händen mitwirken mussten?

Damals sind 188 von ihnen umgekommen. Die betreffende 10. Klasse hat die Anlage gesehen und viel über sie vor Ort in Engerhafe neben der Kirche gehört.

Und noch beeindruckender ist natürlich die Begegnung mit Zeitzeugen, die erzählende und ausschmückende und mit Gefühlen versehene Berichterstattung eines Menschen, der zu der Zeit gelebt hat und das, was er mit eigenen Augen gesehen hat, mit seinen Worten und seiner Interpretation wiedergibt.

Genau das machte Herr Osterwald am NIGE: Er erzählte und schlug die Zuhörerschaft (insgesamt an die 100 Personen, da nun alle 10. Klassen und ein Oberstufenkurs eingeladen waren) in seinen Bann. Und er gab Antworten!
Ausführlich schilderte er seine Kindheit im armen Moordorf, seine Erziehung von und mit Autoritäten, die nahezu in allen Lebensbereichen selbstverständliche Begegnung mit der obersten Autorität Adolf Hitler, mit dessen Namen man sich von morgens bis abends begrüßte, dessen Konterfei in jedem Klassenzimmer hing und der mit seinem Heilsversprechen den alten Stolz der Kaiserzeit scheinbar wieder zurückbringen wollte. Das bedeutete laut Osterwald für das damalige Geschichtsbild eines jeden, die „Schmach“ des Versailler Friedens wieder loszuwerden und Deutschland wieder groß zu machen.

Die ständige Indoktrination und die Verführbarkeit der Menschen, besonders natürlich der Jugend, sei somit eine Erklärung für das Mitlaufen. Dennoch berichtete Herr Osterwald von Schamgefühlen und Unrechtsbewusstsein, das sich aber im jugendlichen Drang und Beieinander in der Hitlerjugend nicht habe durchsetzen können. Als sehr jung eingezogener Wehrmachtsangehöriger habe er in den letzten Jahren des Krieges aktiv mitgeholfen, Deutschland vor dem Feind zu verteidigen. Er habe getötet und töten müssen und werde damit, danach gefragt, nach eigener Aussage nur sehr schwer fertig. Es helfe ihm, davon zu berichten und z.B. mit heutigen Jugendlichen darüber zu sprechen. Auch der Glaube helfe ihm und das buchstabengetreue Verfolgen und Einstehen für die Menschenrechte: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“

Lange sei in Deutschland eine Aufarbeitung der Geschichte vermieden worden; er selbst sei im Rückblick immer noch fassungslos, dass er als 18-Jähriger – nach dem Krieg zurück auf dem Gymnasium – ganz einfach wieder Vokabeln und Grammatik habe lernen sollen, anstatt mit Hilfe von Gesprächen mit zum Beispiel den Lehrern oder anderen Personen das Erlebte zu verarbeiten und einordnen zu lernen. Die Kriegsgeneration sei mit dem Erlebten allein gelassen worden.
Wie kann man nun heutzutage bei der aktuellen geopolitischen Weltlage, den Konflikten und dem zunehmenden Neo-Nationalismus der Staaten verhindern, dass man mit in diesen Sog gerät, Mitläufer wird und Mittäter?
„Bewahrt euch die Fähigkeit, Mitleid zu empfinden und allen anderen Menschen gegenüber mit Respekt zu begegnen“, lautet sein Angebot, das dankbar angenommen wurde. Es hört sich machbar an und gibt Hoffnung, dass das Gute im Menschen stärker ist als seine Schwäche und Verführbarkeit!


Wir alle sind Herrn Osterwald sehr dankbar, dass er sich als Zeitzeuge stets zur Verfügung stellt, offen über das Erlebte spricht und somit unserer Generation und der der Jugendlichen die Gelegenheit bietet und auch die Verantwortung übergibt, unser kollektives Gedächtnis mit diesen Informationen anzureichern.

Text und Bild: Elise Bessert