Betroffenes Schweigen im Sonnenlicht
Die Sonne wärmt die Menschen, denen bei der Erinnerung an den 27. September 1943 eine Gänsehaut über den Rücken läuft. Sie versammeln sich vor der Warftbühne und lauschen der NIGE-Band und den Worten von Bürgermeister Klaus Wilbers sowie dem zehnminütigen Geläute.
„Es ist gut, dass die Jugendlichen sich mit diesem Thema beschäftigen, es ist schön, dass in Esens jedes Jahr an den Bombenangriff vom 27. September 1943 erinnert wird“, sagt Irene Peitzmeyer. Sie, drei Jahre nach Kriegsende geboren, hat ihre älteste Schwester Hannelore Bäcker nicht kennengelernt: „Sie ist beim Bombenangriff in Esens ums Leben gekommen, damals war sie 14 Jahre alt“, erzählt sie. Deshalb kommt sie regelmäßig zum Erinnern aus Schortens nach Esens. „Meine Schwester ist damals mit vielen anderen Mädchen im gleichen Alter, alle Jahrgang 1929, von Georgsmarienhütte nach Esens geschickt worden. Die Eltern glaubten, hier seien die Mädchen sicherer als in einem Fabrikstandort“, erinnert sich die Schortenserin.
106 Kinder und Jugendliche sind 1943 unter den gesamt 165 Opfern des verheerenden Bombenangriffs und wie die Familie von Irene Peitzmeyer es tut, wird auch in Esens jährlich an diese Opfer und an die Zerstörungen der Stadt gedacht.
Schüler verlesen Zeitzeugenberichte im „Haus der Begegnung“
In diesem Jahr haben die Schüler der Esenser Realschule und des Niedersächsischen Internatsgymnasiums das Rahmenprogramm vorbereitet. Sie gestalteten im „Haus der Begegnung“ die Ausstellung „Mythengang“, in der sie die Unwahrheiten des Faschismus darstellen, die den Menschen damals als Wahrheiten verkauft wurden. Sie verlesen die Berichte von Esenser Zeitzeugen, im Hintergrund sind Bilder von Esens zu sehen, wie es nach dem Schreckenstag aussah. Die Zuhörer – darunter Schüler, aber auch viele Bürger, für die die Gedenkveranstaltung ein wichtiger Termin im Jahresablauf ist – hören schweigend zu, viele kennen die betroffenen Familien oder deren Nachkommen.
Helmut Collmann, Präsident der Ostfriesischen Landschaft, ist zu Gast in der Bärenstadt. „Ich war vier Jahre alt und erlebte einen Luftangriff in einem Schutzkeller“, sagt er. Er könne sich an die Angst vor allem der Frauen erinnern.
Die Schortenserin Irene Peitzmeyer ist mit ihrer zehn Jahre älteren Freundin Gisela Krome nach Esens gekommen. Die beiden Frauen stehen vor der Warftbühne in der Sonne und lauschen den acht Musikern der NIGE-Band, die getragene Songs ausgesucht haben. Gisela Kromes‘ Stimme stockt, ihre Augen werden feucht: Sie erzählt, dass ihr Vater im März 1945 zum Geburtstag der Mutter nach Hause kam, aber noch einmal zurück an die Front musste. „Er hat gemeint, dass der Krieg bald zu Ende ist, wir wissen nicht genau, wann er gefallen ist“, sagt sie. Die Erinnerung tut ihr weh, sagt sie. Aber sie ist trotzdem da, um sich zu erinnern. „Nur wer sich erinnert, kann sich bemühen, den Frieden zu erhalten“, sagt Bürgermeister Klaus Wilbers.
Um 11 Uhr beginnen die Glocken der St. Magnus-Kirche zu läuten. Zehn Minuten lang mahnen sie an den zehnminütigen Bombenangriff auf Esens um die gleiche Zeit vor 70 Jahren. Gestern war ein sonniger Tag, kaum vorstellbar, dass er vor 70 lahren so dunkel war.
Text und Fotos von Heidi Hinrichs