Ahnen machen Schüler zu Forschenden
Ahnenforschung? Nicht das Aufstellen eines wirr verzweigten Stammbaumes, der bis in vergangene Jahrhunderte zurückreicht, stand im Fokus des Seminarfachs Ahnenforschung am Niedersächsischen Internatsgymnasium Esens (Nige).
Vielmehr wurde das vergangene Leben in seiner ganzen Bandbreite von Freud und Leid beleuchtet. An zwei „Abenden der Geschichte“ stellten jeweils vier Schülerinnen und Schüler ausgewählte Ergebnisse ihrer Forschungsarbeiten vor Eltern, Mitschülern und Lehrern vor.
Doch was ist Ahnenforschung – wie funktioniert sie? Und was gehört zum wissenschaftlichen Arbeiten dazu? Das erfuhren die Forschenden des Nige unter der Leitung des Fachlehrers Wilfried Schnabel ab Februar im Jahrgang 12. In einer zweiten Phase zu Beginn des 13. Jahrgangs begann dann die Facharbeit.
Drei Beispiele
Keine Familienstammbäume, sondern das Leben Einzelner um das Jahr 1945, Einzelschicksale als Teil eines großen Ganzen, standen im Mittelpunkt.
Am „Abend der Geschichte“ präsentierte unter anderem Jan Janßen sein Ergebnis. Er berichtete von einem Facharbeiterbrief als Elektroinstallateur, der am 31. März 1945 im militärischen Ausbildungsbetrieb der damaligen Kriegsmarinewerft in Wilhelmshaven ausgestellt wurde. Damit tauchte Jan in die Geschichte seines Urgroßvaters ein und beleuchtete die Ausbildungszeit und deren Umstände knappe sechs Wochen vor Kriegsende. Als Besonderheiten nannte Jan die ständige Furcht, in der der Großvater leben musste, eine spätere Stationierung auf Helgoland und den weiteren Lebensweg und die Anstellung beim ehemaligen Küchenhersteller Jaso in Esens. Jans Fazit: Der Lebensweg des Urgroßvaters wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst: dem Zweiten Weltkrieg, strengsten Arbeitsbedingungen und dem Zwang, die Familie ernähren zu müssen.
Erzählung als Quelle
Menthe Arndt präsentierte einen anderen Aspekt der Ahnenforschung. Er setzte sich mit der Überlieferung der familiären Fluchtgeschichte aus Ostpreußen vor beziehungsweise im Januar 1945 auseinander. Menthe reflektierte kritisch die Sicherheit von Vergegenwärtigung des Vergangenen in Erzählungen und überprüfte deren Plausibilität. Als Quelle diente ihm Anny Bolz. Sie berichtete von der Roten Armee, vor der die Menschen panikartig geflohen seien – über Pillau, mit Schiffen über die Ostsee oder zu Fuß Richtung Danzig und weiter gen Westen. Für Menthe ist die mündliche Überlieferung unvollständig. Ein Problem der Ahnenforschung, das Menthe durch eine historische Rekonstruktion auffüllt. Er klärt die Frage der genauen Herkunft, stößt auf Geburtsdaten und weitere Informationen.
Flucht und Neuanfang
Jana Steffens widmete sich in ihrer Familiengeschichte der Flucht ihres Urgroßvaters aus Schlesien, der Ankunft in Ostfriesland und dem Neuanfang. Der Empfang in Barkholt bei Esens war freundlich, die wirtschaftliche Lage 1945 schwierig. Die Bauern konnten sich einen Flüchtling aussuchen, der dann zunächst in der Landwirtschaft arbeitete. Dennoch: Der Urgroßvater war ein Fremder im eigenen Land. Erst durch eine Ausbildung zum Klempner, den Meisterbrief, eine Firmengründung und das Hobby Musik – der Urgroßvater spielte zu den unterschiedlichsten Anlässen – folgte die Integration sowie mit der Frau und einem Haus das Gefühl des Ankommens.
Jedes einzelne Schicksal war und ist ein Mosaiksteinchen der Geschichte und somit ein Teil eines großen Ganzen.
Dieser Artikel ist zu erst im Anzeiger für Harlingerland erschienen (09.12.2023)